Fakt ist, wir können nicht wissen, was funktionieren wird und was nicht.
Was gestern noch funktionierte, bewirkt heute gar nichts; und was heute funktioniert, bleibt morgen womöglich erfolglos.
Das gilt im Kontext von Content und erst recht im Marketing.
Glücklicherweise gibt es immer (!) Alternativen, auch wenn jede Entscheidung einen Trade-off bedeutet: Entscheide ich mich für X, entscheide ich mich gleichzeitig gegen Y.
Wichtig ist, dass wir uns überhaupt die Zeit nehmen, möglichst viele dieser Alternativen zu identifizieren. Oft lässt sich nämlich ein vermeintlicher Nachteil als Vorteil framen, etwa „Wir haben nichts zu verlieren“ statt „Wir sind unterlegen“. Dadurch ergeben sich wiederum neue Chancen, zum Beispiel können wir ein höheres Risiko eingehen und unkonventionelle Lösungen ausprobieren.
Dem zugrunde liegt ein Perspektivenwechsel, der durch kritische Fragen und Überlegungen herbeigeführt werden kann – durch sogenanntes First Principle Thinking.
Dieser Artikel ist mein Versuch, First Principles – anhand eigener Beispiele – zu erklären und warum sie für die Entstehung von innovativem Content so wichtig sind.
Was sind First Principles und First Principle Thinking?
A first principle is a basic assumption that cannot be deduced any further.
First Principles sind grundlegende Wahrheiten, die sich nicht aus anderen Grundsätzen oder Axiomen ableiten lassen. Sie bilden die Grundlage für das Verständnis eines bestimmten Themenfelds. Sie sind die sozusagen die Bausteine, aus denen wir komplexere Ideen und Konzepte konstruieren können. Die Newton’schen Axiome sind ein (hoffentlich) bekanntes Beispiel dafür.
Allgemeine Annahmen und Analogien im Sinne von bewährten (aber eben nicht bewiesenen) Prinzipien sind sozusagen die Antithese zu First Principles.
First Principle Thinking bedeutet folglich im Kern zu denken wie ein:e Wissenschaftler:in: Triff keine voreiligen Schlüsse und verlasse dich nicht auf Annahmen, sondern beginne mit Fragen wie „Was ist Fakt, was ist bereits bewiesen?“ Hinterfrage alles, bis keine Zweifel mehr übrig sind.
First principles thinking, which is sometimes called reasoning from first principles, is one of the most effective strategies you can employ for breaking down complicated problems and generating original solutions.
James Clear geht sogar noch einen Schritt weiter und schreibt in seinem Essay, dass dies der wahrscheinlich beste Ansatz ist, um zu lernen, für sich selbst zu denken.
Und genau das ist auch Knackpunkt!
Ein gutes Beispiel für die Anwendung von First Principle Thinking ist Elon Musk. Im folgenden Kurzvideo erklärt er seinen Denkansatz im Zusammenhang von Autobatterien: Anstatt die Marktpreise für Batterien zu akzeptieren, hinterfragt er den Status quo (“teure Batterien”) von Grund auf – und stellt fest, dass dieser Preis auf Basis von Rohstoffpreisen deutlich niedriger sein könnte.
Ähnlich tat er es auch beim Bau von Raketen mit SpaceX, wodurch es ihm gelang, die Kosten für Raketen um den Faktor 10 zu verringern (und dabei trotzdem profitabel zu sein).
Oder denk an Musik – alles basiert auf Noten, Akkorden, Melodien etc. (ich empfehle wärmstens Marti Fischers #WieGehtEigentlichMusik-Serie auf YouTube)
CrossFit Workouts – ich glaube, ich hab noch nie zweimal dasselbe Workout gemacht …
Denk an LEGO® – haben wir jemals zweimal dasselbe gebaut? ;-)
The best way to develop cutting-edge ideas is to start by breaking things down to the fundamentals. First principles thinking does not remove the need for continuous improvement, but it does alter the direction of improvement.
First Principle Thinking bedeutet Dekonstruktion und Rekonstruktion im Wechsel – mit dem Ziel, mit jeder Iteration eine bessere Lösung zu entwickeln. Das kann sowohl Optimierung, Innovation als auch Integration bedeuten.
Überleg dir doch einfach mal selbst, was die kleinsten Bausteine deiner Inhalte sind. Woraus besteht beispielsweise ein Blogartikel? Und wie teuer und wertvoll sind diese Micro Assets an und für sich genommen? Welche Möglichkeiten ergeben sich daraus, sie außerhalb ihres ursprünglichen größeren Kontextes (Artikel) verwenden zu können?
Warum ist First Principle Thinking erfolgsentscheidend – für Content, fürs Marketing, fürs Business?
Ein Beispiel, warum das so wichtig ist, sind Werbebanner: Am Anfang waren sie neu und Nutzer:innen neugierig. Die Klickrate lag bei weit über 90 %. Je mehr Werbetreibende sich jedoch auf die Annahme „Werbebanner funktionieren“ verlassen und folglich immer mehr Werbebanner auftauchen, desto schneller verlieren Nutzer:innen das Interesse – und entwickeln eine Banner Blindness. Die einstige „Tatsache“, dass Werbebanner „funktionieren“, ist zu einer falschen Annahme geworden.
Dasselbe gilt für E-Mail-Öffnungsraten, Google Ads CPC und quasi jeden anderen Traction Channel.
Andrew Chen, Partner beim US Venture Capitalist Andreessen Horowitz, gab diesem Phänomen daher auch den passenden Namen „The Law of Shitty Clickthroughs“.
The more action individuals take on the model of reality stating that „people like to click on banner ads,“ the less accurate that model becomes.
Um diesem Teufelskreis zu entkommen, müssen wir uns wieder auf First Principles besinnen und das bestehende System dekonstruieren, um es durch kreative Synthese neu aufzubauen.
Und zwar immer und immer wieder.
Es gibt nicht die eine beste Struktur für Blogartikel oder Landingpages oder das perfekte Content Design. (Deshalb findest du in meinen Artikel in der Regel Zusätze wie „System“, „Framework“ oder „Prinzipien“.)
Der Vorteil: Wir erweitern unser Verständnis mit jedem Problem, das wir lösen, und wir lernen mit jeder neuen Iteration, worauf es wirklich ankommt.
Lies in diesem Zusammenhang auch:
First Principles vs. Grundprinzipien – optisch kaum ein Unterschied, aber inhaltlich gravierend
Es sei auch erwähnt, dass der ursprüngliche Gedanke des „wissenschaftlichen Denkens bzw. Fragens“ immer mehr vermischt bzw. ersetzt wird mit „Grundprinzipien“, wie Unternehmen sie häufig in ihren Core Values definieren.
Aussagen wie „Be bold and move fast.“ (aus Hotjars Core Values, Stand 2023) oder „We insist on viewing the world through our customers’ eyes. (aus InVisions Prinzipien, Stand 2023) haben mit First Principles erstmal nichts zu tun, sondern fungieren in einem Unternehmen als Leitmotive.
Den Unterschied kannst du dir vereinfacht ausgedrückt so vorstellen:
- Leitmotive beginnen mit einer Überzeugung, etwa „Wir glauben, dass …“.
- First Principles beginnen mit einem Fakt, etwa „Wir wissen, dass …“.
Wie entwickle ich First Principles?
Im Grunde beginnt alles durch Beobachtungen und der Frage nach dem Was und Warum.
Die sokratische Fragemethode, um Wissen aufzubauen
Die sokratische Methode (benannt nach ihrem Entwickler Sokrates) ist eine Form des kooperativen, argumentativen Frage-Antwort-Dialogs, mit dem Ziel, kritisches Denken anzuregen und zugrunde liegende (und vermeintlich falsche) Annahmen herauszuarbeiten. Sie wird deshalb auch als Methode der Hypothesen-Eliminierung bezeichnet, bei der bessere Hypothesen gefunden werden, indem diejenigen, die zu Widersprüchen führen, nach und nach identifiziert und eliminiert werden.
Die folgenden Grundmuster liegen ihr zugrunde[1]:
- Verstehen – Stelle Frage wie: Kannst du mir ein Beispiel dafür geben? Kannst du _ noch näher erklären? Meinst du _? Was genau ist das Problem?
- Annahmen verifizieren – Ist das immer so? Setzt das _ voraus? Gilt das für alle X?
- Gründe hinterfragen – Warum ist das so? Woher weißt du das? Welche Daten unterstützen diese Aussage?
- Alternative Perspektiven einnehmen – Welche Alternativen gibt es? Was würde _ dazu sagen? Was wäre ein Fall, in dem das nicht stimmt? Was wären Gegenargumente?
- Konsequenzen verstehen – Was wären die Folgen? Was, wenn das nicht stimmt? Bedeutet das auch, dass _? Wie können wir herausfinden, ob _?
- Die Ausgangsfrage hinterfragen – Warum stellen wir diese Frage(n) überhaupt? Was können wir daraus ableiten?
Für einen einfachen Einstieg, stell dir einfach vor, dass du nichts weißt und alles erfragen musst.
Unser Stoffwechsel: Erklärt auf Basis von First Principles
Schau bzw. hör dir den Abschnitt von 22:23 (einfach das Video unten starten) bis ca. 33:00 dieses Gesprächs zwischen Dr. Andrew Huberman und Dr. Andy Galpin an. Galpin stellt hier fast schon provokative Fragen, um dann auf Basis von First Principles zu erklären, wie unser Stoffwechsel funktioniert.
Weißt du beispielsweise, warum es beim Atmen gar nicht direkt um den Sauerstoff geht? Oder warum wir theoretisch nur durch Atmen abnehmen könnten?
Wusste ich vorher auch nicht …
Und ja, das ist ein fast vierstündiges Gespräch! Because … why not?
Die Five Whys-Methode als Fehler-Ursachen-Analyse
Five Whys ist eine von Sakichi Toyoda, Gründer der Toyota Motor Corporation, entwickelte iterative Fragetechnik, die dazu dient, die einem bestimmten Problem zugrunde liegenden Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu erforschen und die Grundursache zu identifizieren (Stichwort: Root Cause Analysis).
Alle Eltern da draußen wissen, was es mit dieser Methode auf sich hat, denn kein Kind überspringt die „Warum?“-Phase und verschont uns Eltern von nervigen Fragen, auf die wir irgendwann keine Antwort mehr haben (außer einem „Weil halt, und jetzt ab ins Bett!“).
Das beweist aber auch, wie einfach die Methode ist: Alles, was wir tun müssen, ist fünfmal Warum? fragen. Oder zumindest so oft, bis wir keine Antwort mehr haben oder Klarheit darüber, welche Annahmen wir eigentlich treffen.
Versuch’s doch mal, wenn wieder jemand zu dir kommt und sagt: „Wir brauchen mehr Content“. ;-)
Aber: Formuliert euer Warum wertschätzend und neugierig, zum Beispiel: „Warum ist es wichtig, dass wir mehr Content haben?“ oder „Warum reicht der Content nicht, den wir haben?“.
Alternativ kannst du einfach mal versuchen, zwei Dinge miteinander zu kombinieren, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.
Johannes Gutenberg kombinierte beispielsweise eine Schraubpresse aus der Weinproduktion mit beweglichen Lettern – beides gab es schon, aber eben unabhängig voneinander.
So entstand auch „Content-Portfoliomanagement“. Haben Content und Wertpapiere auf den ersten Blick etwas gemeinsam? Nicht unbedingt. Aber die Kombination eröffnet uns neue Möglichkeiten, um Content zu verstehen (als Asset, das einen variablen Wert besitzt) und zu nutzen.
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Portfolio im Content Management
Durch strukturelle, inhaltliche und gestalterische Optimierung den Wert von Content kontinuierlich steigern.
Fazit: First Principle Thinking reduziert den Erfolgsdruck – und fördert dadurch die Kreativität
Das Schöne an First Principle Thinking ist, dass wir gar nicht immer alles bis zum Root Cause durchdenken müssen. Oft reicht es, wenn wir einfach nur tiefer gehen als alle anderen. Denn auf jeder neuen Abstraktionsebene ergeben sich meist neue Lösungsansätze.
Für mich ist aber ein First Principle immer wieder wegweisend: Ich weiß nicht, was funktionieren wird. Das versetzt mich automatisch in ein „Experimentation Mindsset“ und führt zu explorativer Lösungsfindung.
Ist dieses Thema hier überhaupt interessant für dich und andere Leser:innen? Weiß ich nicht, aber ich bin im Begriff es herauszufinden. Meine Studierenden an der FH kannten es nicht, waren aber interessiert. Ebenso die Kollegen vom Search Effect SEO Podcast und ein Großteil meiner Newsletter-Abonnent:innen.
Dieser Artikel ist so gesehen also auch nur eine Iteration zur Validierung. Eine weitere W-Frage, wenn du so willst, um herauszufinden, welches Potenzial das Thema hat.
Eine weitere Frage, die ich mir regelmäßig stelle, ist: What am I optimizing for?
Inspiriert durch ein Gespräch zwischen James Clear und Tim Ferriss hilft mir die Beantwortung dabei, mich guten Gewissens (!) auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Im Falle dieses Artikels ist das bspw. der „Joy of Research and Writing“ – wodurch dieser Artikel ein voller Erfolg geworden ist.
Das sähe anders aus, wenn mein Ziel wäre, für bestimmte Keywords zu ranken, Traffic zu generieren oder andere „Performance KPI“ zu beeinflussen.
Und ein weiteres First Principle ist: Erfolg braucht Zeit.
Wenn ich nach meinem größten Erfolg im Content Marketing gefragt werde, dann ist meine Antwort in der Regel die, dass ich nach 12+ Jahren (des Bloggens/Schreibens) immer noch erfolgreich (Achtung: Erfolg ist Definitionssache!) mitspiele.
Was sich über die Jahre jedoch verändert hat, sind Themen, Plattformen, Prozesse und natürlich Tools. Denn, wie gesagt: Der Markt ist extrem volatil.
Was wir – als Content Creator, Content Marketer etc. – brauchen, sind nicht noch mehr Formeln, Best Practices oder gut gemeinte Ratschläge. Was wir brauchen, ist die Fähigkeit, unsere Meinung angesichts einer sich stetig verändernden Realität kontinuierlich anzupassen.
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Robert ist Autor des Bestsellers „Content Design“ (Hanser Verlag), unabhängiger Content-Stratege und Gründer dieses Magazins (ehem. „toushenne.de“). Daneben lehrt er Content-Marketing an der FH JOANNEUM sowie Content Design an der ZHAW. Mit über zehn Jahren Erfahrung aus dem Agenturgeschäft, E-Commerce- & SaaS-Unternehmen sowie zahlreichen Freelance-Projekten mit führenden Marken wie Adobe, Bike24 und contentbird, entwickelt er wirksame Strategien für die Optimierung des Content ROI.